Ob beim Gesellschaftsspiel oder beim Erzählen: Mit der Wahrheit nehmen es kleine Kinder manchmal nicht so genau. Muss man darauf eingehen, um Lügen zu unterbinden, oder besser die kleinen Flunkereien übersehen?
Was wahr ist, muss man erst lernen
Kindermund tut Wahrheit kund, lautet ein Sprichwort. Tatsächlich sprechen Kinder oft offenherzig und arglos aus, was sie denken. Aber es gibt auch andere Momente. Etwa, wenn die noch nicht dreijährige Ida von ihrer Reise im Hubschrauber erzählt, die niemals stattgefunden hat. Oder wenn Yoshua beim Memo-Spiel nicht nur zweimal, sondern vier-, fünf-, sechsmal die Karten aufklappt und darauf angesprochen behauptet, es nicht getan zu haben. „Das stimmt doch gar nicht“, entfährt es den Eltern. Sollte man das Kind ermahnen, damit es sich nicht daran gewöhnt, mit Unwahrheiten zu prahlen oder durchzukommen?
Bei Zwei- oder Dreijährigen sagen Experten: Keine Sorge. Für die frühen Jahre ist es völlig normal, manchmal erfundene Dinge zu behaupten. Der Grund ist: Den Unterschied zwischen Realität und Fantasie muss ein Kind erst lernen. Beispielsweise wissen Kleinkinder im Alter von zwei oder drei Jahren noch nicht, dass es manche Dinge in echt gibt, andere nicht. Für sie sind die Figuren im Bilderbuch, zum Beispiel all die sprechenden Tiere, erst einmal genauso echt wie die Nachbarin. Das Märchen mit einem sprechenden Wolf ist ebenso real wie Mamas Geschichten von ihrer Arbeit. Klar, dass sie überhaupt kein Problem haben, „geflunkerte“ Erlebnisse zu erzählen. Ohnehin dürften sie selbst kaum wissen, welche Geschichten aus ihrer Fantasie stammen und welches „echte Erlebnisse“ sind.
Erst allmählich unterscheiden Kleinkinder zwischen Fantasie und Realität. Man spürt die Auseinandersetzung mit dieser Frage an ihrer Begeisterung für Quatschgeschichten, in denen völlig unmögliche Dinge passieren.
Zwischen Wunsch und Wirklichkeit unterscheiden
Genauso verhält es sich mit den Dingen, die man als kleines Kind gerne möchte. Wenn Kinder wie Yoshua beim Gesellschaftsspiel schummeln, zeigt sich daran, dass sie den Sinn des Spiels verstanden haben. Es geht darum, zu gewinnen. Weil der Wunsch, beim Spiel Sieger zu sein und die Wirklichkeit noch kaum unterscheidbar sind, ist es für kleine Kinder überhaupt kein Problem, diesen Wunsch durch ein paar „veränderte Regeln“ wahr werden zu lassen. Eine böse Absicht darf man den Kindern nicht unterstellen. Denn dafür fehlt ihnen aufgrund des Entwicklungsstandes noch die Fähigkeit, sich in die Mitspielenden hineinzuversetzen und zu begreifen, dass diese ja ebenfalls gewinnen wollen. Die Fähigkeit zur Empathie entwickelt sich erst gegen Ende des Kindergartenalters allmählich. Und erst zum Ende des Grundschulalters hin entwickelt sich das Gewissen des Kindes, das es aus moralischen Gründen vom Schummeln abhält. Kleinkinder brauchen also viel Zeit, um die Sache mit der Wahrheit zu lernen.
Gelassen mit Unwahrheiten umgehen
Wie verhält man sich am besten, wenn kleine Kinder nicht die Wahrheit sagen? Bei geflunkerten Geschichten ist es ratsam, sie gar nicht als real wahrzunehmen. Stattdessen können Sie das Kind unterstützen, indem Sie sich auf die berichteten Fantasiewelten einlassen: „Ja, auf dem Hubschrauberflug haben wir einen echten Dinosaurier getroffen, oder?“ Eigentlich sind nämlich solche vermeintlichen Lügen-Geschichten nur eine andere Form von Märchen, bei denen es darum geht, der Fantasie freien Lauf zu lassen. Gönnen Sie sich gemeinsame Ausflüge in die Welt der Fantasie. Um allmählich den Unterschied zwischen echt und erfunden zu vermitteln, reicht es völlig aus, ab und zu einzuflechten: „Zum Glück gibt es in echt übrigens keine Hexen“. Genauso, wie man es beim Erzählen von Märchen machen sollte.
Bei der Sache mit den Gesellschaftsspielen verhält es sich ähnlich. Auch hier reicht es aus, ab und zu freundlich einzuwenden: „Eigentlich darf man ja nur zwei aufklappen …“ oder „Na, war das wirklich nur zweimal Umklappen?“. Durchsetzen sollten Sie diese Regel bei Kindern unter drei, vier aber noch nicht mit aller Macht. Denn daraus würden vermutlich Streit und schlechte Laune entstehen, und Ihr Ziel beim Spiel ist ja gemeinsamer Spaß. Es ist auch kein Verwöhnen und Verhätscheln, wenn Sie Ihrem kleinen Kind trotz Schummelei manchen unverdienten Sieg gönnen. Denn in puncto Regeln einhalten und verlieren können, ist es ein absoluter Anfänger, Sie hingegen Profi.
Als gutes Vorbild für mutige Wahrheiten wirken
Wie aber vermittelt man Kindern, warum es gut ist, bei der Wahrheit zu bleiben? Einer der besten Wege ist hier die Vorbildfunktion: Wenn Sie Ihrem Kind auch in schwierigen Momenten die Wahrheit sagen, schaut es sich diesen Mut von Ihnen ab. Sprechen Sie also darüber, dass es Ihnen manchmal auch schwerfällt, bei der Wahrheit zu bleiben. Trotzdem tun Sie es, weil Sie es fair für andere finden. Auch bei der Sache mit der Ehrlichkeit beim gemeinsamen Spiel hilft es, über sich selbst zu sprechen. „Oh nein, jetzt habe ich genau daneben gegriffen! Am liebsten würde ich noch eine Karte aufdecken. Aber jetzt darf ich nicht mehr und warte, bis ich wieder an der Reihe bin.“
Das Wichtigste: Zeit lassen
Warum man die Wahrheit sagen soll, verstehen Kleinkinder noch lange nicht. Deshalb ist der wichtigste Rat: Bei Kindern unter drei stellen Sie das Thema zurück, zugunsten des gemeinsamen Spaßes beim Spielen und Erzählen. Wenn es Ihrem Kind noch sehr schwer fällt, ohne Tricks und Trug zu gewinnen, spielen Sie die Spiele in Varianten ohne Sieger. Wie wäre es mit einer Partie Bilderlotto, bei der es nicht darum geht, der Schnellere zu sein, sondern alle Kärtchen nach Farben oder Motiven zu sortieren (mit Tier/ohne Tier, nass/trocken, groß/klein) und anschließend gemeinsam auf die Tafeln zu verteilen: „Jetzt ist der Frosch dran. Siehst du, wohin er gehört?“
Dies ist ein Artikel unseres Gastautors Michael Fink. Er ist als Dozent in der Fort- und Weiterbildung von Erzieher:innen und Lehrer:innen tätig, Mitbegründer einer pädagogischen Fachzeitschrift und Autor von über 50 pädagogischen Fachbüchern.